Erstaunlicherweise sind wir beide nach knapp 6 Stunden Schlaf wieder fit und wollen los. Der Regen hat aufgehört, der Himmel ist klar und die abendlich mit Ofenwärme erzeugte Sauna hat tatsächlich alle Klamotten getrocknet und sogar die Schuhe sind fast trocken. Also alles wieder zusammenpacken und zwei Frühstücksriegel einwerfen. Wir wollen keine weitere Zeit verlieren, denn heute beginnt alles von vorne, nur mit ein paar Kilometern weniger und hoffentlich deutlich schneller. 

Auch das Knie fühlt sich gut an und so kommen wir gut voran. Leider nicht besonders lang, denn am Fuße des Berges folgt erneut üppige Vegetation und riesige Pfützen auf einem Trail entlang des Flusses, den wir nach ein paar Kilometern über eine Hängebrücke queren dürfen. Wir haben gute Laune, erreichen die Brücke und auf der anderen Seite geht es direkt wieder hinauf. Als Belohnung gibt es nun spektakuläre Blicke auf einen riesigen Wasserfall und zwei Flüsse, die hier tosend aufeinanderstoßen. Wahnsinn, das alles von oben zu sehen. Es folgt eine weitere Brücke und dann geht es viele Kilometer durch klatschnasse Botanik am Ufer eines breiten und stark fließenden Stroms.

Das Knie meldet sich zurück. Ich hatte gehofft, dass das Thema erledigt wäre, aber das ist es nicht. Erneut müssen wir halten und ich ziehe mir Knielinge an, von denen ich mir etwas Kompression am Knie erhoffe, um die Schmerzen zu lindern. Das klappt nicht so gut, aber wir müssen weiter und ich muss die Zähne zusammenbeißen und hoffen, dass es wieder besser wird.

 

Unendliche Bruchsteinfelder

Wir erreichen auf dem nächsten Hochplateau zunächst eine norwegische Hütte, die wohl das Angelparadies hier oben darstellt, denn direkt daneben glitzert ein herrlicher Bergsee in der Sonne und einige Angler haben sich hier eingefunden. Ganz schön aufwändig, so weit in die Berge zu wandern, um zu angeln, aber jeder hat seine Leidenschaften und wir sind in ihren Augen vermutlich ebenso merkwürdig.

Kilometer um Kilometer geht es bergauf, die Schuhe sind nach einigen Bächen wieder einmal nass und es wird mit jedem Höhenmeter steiniger. Die ersten Schneefelder tauchen auf, wie bereits am Vortag.  Drüber weg oder drumherum? Auch hier plätschert Wasser unter dem Eis und Schnee und ganz vorsichtig gehe ich mit den Poles vorab prüfend über das Eis, während Jens den weiteren Weg drumherum wählt. Beides funktioniert und Jens findet ein Rentiergeweih, welches nun das Rucksackgewicht erhöht, aber schon ein ziemlich cooles Andenken ist. Am Abend werden wir Jacob treffen und er kann es im Camper einlagern.

Per Satelliten-Messenger frage ich an, ob Jacob irgendwo auf dem Weg eine Kniebandage besorgen kann, und lese, dass er eine im Auto hat. Das gibt mir Hoffnung, aus der Sache wieder herauszukommen, und so stürmen wir in das nächste Bruchsteinfeld, im Glauben, dass der Peak da oben der letzte ist.  Fataler Irrtum und eines der größten Learnings in Lappland: Die Berge sind oft nicht steil, aber endlos lang und haben diese fürchterlichen, fliehenden Kuppen. Die Scheinriesen der Berge, die niemals enden und bei schwindender Motivation für Unmut sorgen.

Der komplette Berg und sein unfassbar langer Bergrücken bestehen anscheinend nur aus schmalen Bruchsteinplatten, vertikal geschichtet und teilweise wackelig.  Die Pace bricht wieder komplett ein, so macht man nur etwa 3 bis 4 Kilometer pro Stunde und in dieser Form haben wir das nicht erwartet. Es gibt auch keine sichtbare bessere Linie, Bruchsteine überall.  Ein deutscher Wanderer kommt uns entgegen und textet uns minutenlang voll, hat aber keine Antworten auf unsere Fragen, ab wann die Route wieder laufbar wird.

Wir haben das öfter erlebt. Viele der Fernwanderer haben tagelang kaum Menschenkontakt und blühen förmlich auf, wenn sich das ändert. Sie wollen sich austauschen und freuen sich sehr über Kommunikation, die nicht nur in ihrem Kopf stattfindet. Jens und ich haben uns, wir führen oft lange Gespräche, laufen aber auch manchmal eine halbe Stunde wortlos hintereinander und genießen Stille und Natur.

Fast 3 Stunden haben wir gebraucht, um die Bruchsteinfelder hinter uns zu lassen, und nun geht es ein wenig einfacher wieder bergab in Richtung eines riesigen Sees, den wir zur Hälfte umlaufen müssen, um in bewohntes Gebiet zu kommen und eine Hütte zu erreichen, in der wir die Nacht verbringen wollen. Fast 40 Kilometer sind geschafft, aber knapp 30 warten noch auf uns. Fast übermütig und in einer Schmerzpause geht es nun zügig den Berg hinab und erneut über eine Hängebrücke, an einer weiteren Berghütte vorbei und hinunter zum See. Auf der anderen Uferseite erkennen wir Ferienhäuser mit Boot vor der Haustür, Dutzende. Zivilisation! So halbwegs jedenfalls.

 

Die Quittung

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© Jacob Zocherman

Noch während ich mich freue, dass wir den heftigen Teil des Nordkalottleden nun hinter uns haben und etwa 115 Kilometer auf der Uhr, kommt der Schmerz zurück, mit aller Heftigkeit und auf den nächsten 5 Kilometern weit darüber hinaus.  Erst das Knie, dann auch das rechte Schienbein, was mir merkwürdig vorkommt, denn mit dem Schienbein hatte ich noch nie Probleme, kenne aber zahllose Leidensgeschichten von Läufern mit einem Schienbeinkantensyndrom, einer Knochenhautentzündung, die durch Überlastung entsteht und extrem schmerzhaft werden kann. War der Belastungswechsel auf links gestern am Berg zu viel für das andere Bein?

Wäre ich doch bloß nicht gerade den Berg hinabgelaufen und hätte sogar noch die Pace vor Jens gemacht. Aber wer ahnt das? Das Gelände ist gar nicht besonders schwierig. Wir laufen viel auf nassen Holzstegen am Ufer, eigentlich gut beherrschbar, und dennoch erreicht der Schmerz nun eine Schwelle, die ich nun trotz einer inzwischen genommenen Schmerztablette so gar nicht mehr ausblenden kann. Sport und Schmerztabletten sind eine wirklich saublöde Kombination und das Filtern von Warnsignalen des Körpers grob fahrlässig. Ohne hätte ich allerdings wohl keinen Meter mehr gemacht. Der Schmerz ist links wie rechts wie ein schartiges, altes Messer in Knie und Schienbein und mit jedem Schritt bohrt es sich tiefer in den Knochen. Im Stillstand passt es, in Bewegung ist es pure Folter und oft fehlt mir die muskuläre Kontrolle, um den nächsten Schritt abzusichern.

Es gibt wieder Mobilfunk und wir fragen bei Jacob an, ob wir ihn etwas früher treffen können, sobald wir auf eine Straße treffen. Es fehlen noch etwas mehr als 20 Kilometer bis zum geplanten Etappenziel. Vollkommen illusorisch, das noch mit diesen Problemen zu schaffen.

Klar, wenn man vor den Killern des Drogenkartells durch den kolumbianischen Dschungel flüchtet, wird es irgendwie funktionieren. Lieber Knie zerstört als tot, überlege ich mir. Aber wir sind in Lappland beim Gröna Bandet und nicht in Kolumbien –  und in Lebensgefahr sind wir auch nicht. Aber das Knie hat ein massives Problem und diese Schienbeinkante ist auch nicht ohne.

Wenige Kilometer später erreichen wir eine Ferienhaussiedlung am See und kurz danach treffen wir auf Jacob und Anna. Eine kurze Besprechung folgt und wir erfahren, dass es hier keine offenen Hütten gibt und der Weg zu dem Campingplatz, an dem er parkt, auch noch um die 5 km beträgt. Wir beschließen, auf der Veranda einer kleinen Hütte mit dem Schlafsack zu nächtigen, mit den Tarps als Regen- und Mückenschutz und Moskitonetz auf dem Kopf. Die Nacht wird kurz und unruhig, es regnet wieder einmal ausgiebig und die Moskitos sind aufdringlich.