
“You guys are doing what?” gefolgt von einer Gesichtsentgleisung wie wir sie beide in unserem Leben noch nie gesehen haben. Eveliina hatte uns als überaus eloquente und ziemlich bunt gekleidete Alleinunterhalterin, Ticketverkäuferin und Reiseführerin auf der M/S Malla gerade erzählt, dass Holger – ein deutscher Extremwanderer – von Anfang Mai bis Ende Juli das Gröna Bandet über 1300km bezwungen hat.
Wir tuckern auf dem Kierakasvupio-See gerade über die finnisch-schwedische Seegrenze. Gute 3500 Kilometer per Flugzeug von München nach Tromsø in Norwegen und mit einem Fernbus nach Kilpisjärvi in Finnland liegen hinter uns. Mit Evelliina und ihrem finster dreinschauenden Mann absolvieren wir die letzten Kilometer in Richtung Dreiländergrenze. Während der Kapitän sich in seinem Mini-Steuerhaus eingeschlossen hat und seinem Gesicht zu urteilen mutmaßlich darüber nachdenkt, wie viel schöner es gerade wäre, einem Ren die Kehle durchzuschneiden, als einem Rudel Touristen die Tour zur Wildnis zu öffnen, unterhält seine Frau uns 12 Abenteuerlustige an Bord.
Eveliina fragt, wie lange wir denn wohl brauchen, wenn wir das als Trailrunner versuchen wollen. Die Antwort „We wanna try to break the current record of 21 days and do it one day faster.“ sorgt für eine überaus erheiternde Stimmung. Vermutlich dachte sie, wir wollen sie verulken, aber Jens und ich nicken ernsthaft zur Bekräftigung. 10 Minuten später hat sie allen Mitreisenden in allerlei Sprachen erklärt, was für verwegene und leicht irre Typen mitreisen und wie sehr sie uns bewundert. Ein Gefühl von Stolz schwingt mit, als uns die Bande am Ufer mit guten Wünschen lautstark verabschiedet. Doch es sollte ganz anders kommen und viel weniger glorreich enden, als wir uns das je vorgestellt hatten.
Nach einigen Kilometern Fußmarsch erreichen wir unseren Startpunkt, den wenig schicken, aber umso markanteren Betonklotz von Treriksröset. Gelegen vor dem Ufer eines brackigen Sees am Rande von Nirgendwo. Geht man um den Klotz herum, besucht man in wenigen Sekunden Schweden, Finnland und Norwegen. Alle drei Länder leiden an dieser Koordinate am gleichen Problem, einer massiven Moskito-Überpopulation. Auf den letzten Meilen vor Treriksröset hat Jens bereits Bekanntschaft mit den sechsbeinigen Genossen gemacht, während ich weitestgehend unbehelligt blieb. Das lässt hoffen, gut einen solchen Freund an seiner Seite zu haben.
Eine Hütte des norwegischen Gebirgsvereins wird zu unserem Unterschlupf vor dem Start. Warum auch immer wir diese im Kartenmaterial übersehen hatten, nun freuen wir uns doch sehr, denn es sind ein Gewitter und Regen in der Nacht angesagt. Bis um 21:30 Uhr haben wir uns startklar gemacht, eine finnische Rentier-Salami gevespert, Tee getrunken und Wasser abgekocht. Da um diese Jahreszeit die Sonne hier nicht untergeht, ist es ratsam, sich mit einer Schlafbrille zu behelfen oder sich in eine dunkle Ecke des Schlaflagers zu legen. Letzteren Plan habe ich vorgezogen, während sich Jens auf der anderen Seite niedergelassen hat. Während er es gewohnt ist, sehr früh ins Bett zu gehen und ebenso früh aufzustehen, bin ich eher die Nachteule, die gerne auch abends noch trainiert und ungern früh aufsteht.
Der Leidtragende dieser Nacht, in der um etwa 22:00 Uhr ein älteres Paar Wanderer die Hütte betritt und laut polternd alles tut, um in mir Aggressionen zu schüren, ist der männliche Part des einziehenden Paars. Wie ein Grizzly schnarchend gibt es einen ordentlichen Punch von Jens auf den Oberarm. Dass Jens dafür nicht direkt einen Roundhouse-Kick zurückerhält, muss wohl daran liegen, dass beide übermüdet nicht Herr ihrer Sinne sind. Ich erfahre erst nach unserem Start um 04:00 Uhr Ortszeit davon, als Jens mir erklärt, ich wäre nachts ein wenig laut. Auch sein Gesichtsausdruck war extrem unterhaltsam, als ich ihm erkläre, dass er den Dienstältesten in der Hütte geboxt hat und nicht mich.
Ein weiteres Paar kam um Mitternacht zum Übernachten hinzu und um kurz vor 4 noch drei junge und erfolglose Angler, die die ganze Nacht in Moskitonetze gehüllt darauf gewartet haben, dass etwas beißt. Uns ist nicht mehr nach Gesellschaft und so brechen wir auf, berühren den Betonklotz und es geht direkt hinauf in die Berge – hinein ins Abenteuer Gröna Bandet.
Der Vogel Smeagol
Wie hunderte Satelliten umkreisen uns Moskitos, egal wie schnell wir gehen oder laufen, sie bleiben bei uns. Erst nach einigen Kilometern und deutlich karger werdender Vegetation werden es weniger. Die paar Euro für ein Kopfnetz sind hier Gold wert, aber Arme und Beine sind ungeschützt. Dagegen hilft uns das am Vortag in Finnland gekaufte Abwehrspray. Funktioniert mega, aber eben auch nur temporär, wenn es leicht regnet und man schwitzt.
Während wir Höhenmeter sammeln und langsam merken, wie schwierig das Gelände ist und oft derart ausgesetzt, dass nicht an Running zu denken ist, nervt ein immerwährendes Piepen von einem ziemlich aufmüpfigen Vogel mit einer lächerlichen Punkfrisur. Später lesen wir, dass es sich um einen Kiebitz handelt, der in dieser Landschaft lebt und vermutlich aus purer Langeweile die seltenen Menschen auf dem Nordkalottleden-Trail abcheckt. Da er ziemlich scheu ist und sich gerne hinter Steinen versteckt, nenne ich ihn Smeagol. Die Herr-der-Ringe-Szenerie passt ebenso gut wie er selbst zu diesem Namen. Über die nächsten 40 Kilometer wird er und seine Kumpels uns piepend begleiten und irgendwann wird er zu einem Freund, den wir suchen, wenn es länger mal nicht piept.
Die Brücke
Bei Kilometer 14 erreichen wir eine schwedische STF-Hütte und plaudern mit der Hüttenwirtin, bevor es weitergeht. Es wird immer nasser und sumpfiger und inzwischen gewöhnen wir uns daran, dass in der letzten Nacht hier deutlich mehr Regen gefallen ist als am Startort. Vermehrt treten wir in Sumpflöcher und müssen uns Umwege um die geplante Route suchen. Dass bei Kilometer 33 eine stark beschädigte Hängebrücke über einem reißenden Fluss auf uns wartet, wussten wir. Die Hüttenwirtin warnt uns, diese Brücke nicht zu betreten und lieber den 10km langen Umweg zu nehmen. Da ich bereits Fotos gesehen hatte und aufgrund der Streckenlänge von 77 Kilometern an diesem Tag nicht auf 87 aufstocken möchte, beschließen wir, uns selbst ein Bild zu machen und ansonsten lieber im weiteren Verlauf eine ruhige Stelle zum Queren des Flusses zu suchen.
Sie hängt schief, die Brücke, und zwar ordentlich. Es fehlen einige Bretter, ein Seil hängt herab und einige Querstreben der Seitenteile sehen auch wenig vertrauenserweckend aus. Die Brücke ist mit Seilen gesperrt und zwei eindringliche und unübersehbare Schilder warnen vor der Nutzung. Der letzte Satz weist aber darauf hin, dass man, versucht man es trotzdem, auf eigene Gefahr handelt und der Zustand der Brücke sich täglich verändern kann. Ich beschließe, mit gutem Beispiel voranzugehen und die Brücke als Erster zu überqueren. Ob das ein wirklich gutes Beispiel ist, darf bezweifelt werden. In Deutschland und Italien wäre diese Brücke in diesem Zustand vernagelt und 10 Totenköpfe wären auf jeder Seite aufgestellt worden.
Das Überqueren ist in der Tat kritisch, denn während es unter mir lautstark brodelt und die Gischt spritzt, überlege ich mir jeden Schritt sehr genau und prüfe vorher die Trittfestigkeit jeder einzelnen Holzstehle, bevor ich sie belaste. Bloß nicht die seitlichen Seile loslassen, denn während des Querens neigt sich die Konstruktion noch weiter. Aber am Ende hält die Brücke und wir freuen uns, Nervenkitzel gegen Kilometer getauscht zu haben.
Wasser und Stein
Wir bewegen uns nun zumeist auf norwegischem Grund, während die Uhren noch die finnische Zeit anzeigen. Schweden ist oft nur wenige Hundert Meter entfernt. Das Gelände wird immer rauer und erschwert das Vorankommen. Wiederholt überqueren wir Flüsse mehrmals und fragen uns später, warum eigentlich. Abkürzungen zu wählen, um Distanz zu sparen, ist möglich, aber nur etwas für ortskundige Abenteurer. Zu schnell gerät man hier in Gelände und Schneefelder, die wegen des Tauwetters von Wasser unterhöhlt sind und zur Falle werden können. Die Füße trocken zu halten, ist schier unmöglich, denn alle paar Minuten plätschert das nächste Flüsschen auf unserer Route und wir fangen das Zählen an. Am Ende dieses Tages, und dieser wird extrem lang, werden es über 50 Bach- und Flussquerungen sein, die wir halbwegs trocken überstehen, und 12 mit bis zu knietiefem Wasser.
Wir haben das Queren von Flüssen beide vorher trainiert und wussten, was auf uns zukommt.
Dass die Füße dramatisch aufquellen, war auch klar, und auch, dass unter diesen Bedingungen Blasen Tür und Tor geöffnet werden. Hier hilft auch der beste Trailschuh (in unserem Fall ein Vorserienmodell des Joe Nimble Trail Addict Flow) und die beste Socke nicht. Dementsprechend klebe ich bereits nach Marathondistanz die ersten zwei Blasen ab. Das ist Teil des Spiels auf Ultradistanzen und hält uns vielleicht zeitlich auf, aber nicht wirklich.
Was mehr aufhält, sind die kilometerlangen Bruchsteinfelder aus oft vertikal stehenden Platten mit spitzen Köpfen, auf denen wir balancieren. Das Laufen ist unmöglich, es geht langsam voran und hier verlieren wir viel Zeit. Der Nordkalottleden ist deutlich ungastlicher als der Kungsleden ab Abisko und genau das macht ihn so schön. Es ist Wildnis, es gibt keine wirklichen Wege, nur farbliche Markierungen, die einen Vorschlag anbieten, aber nicht immer die beste Option. Mit dem Wissen, das wir an diesem Tag erwerben, würden wir unsere Route beim nächsten Mal vermutlich anders wählen und hier und da Kilometer gegen Höhenmeter tauschen.
In einem der Bruchsteinfelder neben einem eisigen See und Schneehang bleibe ich beim Balancieren zwischen den Steinen inmitten eines Richtungswechsels mit dem rechten Bein hängen und verdrehe mir schmerzhaft das Knie, da sich der Schuh verkeilt hat. Ein stechender Schmerz macht sich im Knie breit, verschwindet aber nach einigen Minuten wieder fast vollständig und ich blende diesen Trittfehler aus, der folgenreich werden wird.
Das Unwetter
Mit Kilometer 50 erreichen wir die letzte Berghüttenanlage vor dem Ziel bei Kilometer 77. Verlassen liegt sie neben einem Fluss, den wir satte 4 × überquert haben, weil der Trail anhand der Markierungen genau dies vorsah. Letztlich hätte man ihn maximal 1 × queren müssen, um zur Berghütte zu gelangen, und überhaupt nicht für unsere Route. Aber wie gesagt, nasse Füße sind zum Standard geworden.
Es wird rabenschwarz am Himmel, Smeagol hat uns verlassen und es scheint, als ob wir Gefährten uns dem Schicksalsberg nähern, wo das Böse auf uns wartet. Wie recht wir haben werden, wird uns sehr bald klar, denn innerhalb von zwei Minuten verfinstert sich die Szenerie dramatisch und der Regen prasselt auf uns herab. Eilig rupfen wir Regenhose und Jacke aus dem Rucksack und verpacken uns so gut es geht, bevor es nun genau in das Auge des Unwetters geht. Nun ist der Trail der Fluss und ein kapitaler Regen stürzt vom Himmel, während weiter entfernt Blitze zucken. Der Spaß weicht in diesen Momenten ein wenig der Pflichterfüllung und ein scheuer Blick auf die Uhr macht uns Sorgen. Eigentlich wollten wir um diese Zeit bereits kurz vor dem Ziel sein und nicht noch 25 Kilometer vor uns haben.
Es geht wieder hinauf, erneut über nun stark anschwellende und reißende Bäche und Steine, Steine und nochmal Steine. Auf einem Hochplateau sehen wir einige Kilometer später das Tal, welches als Nächstes zwischen den Gipfeln auf uns wartet. Der Regen nimmt immer weiter zu und auch Blitz und Donner kommen näher und werden zunehmend bedrohlicher. Das sind die Situationen, in denen ich am stärksten bin und meinen stärksten Motivator einsetzen kann: Trotz. Kurz vorher haben Jens und ich uns über die jeweiligen Motivatoren unterhalten. Es gibt durchaus Parallelen, aber auch Unterschiede. Jeder funktioniert anders und zieht seine Kraft aus verschiedenen Quellen. Für mich sind positive Mantras nicht sehr funktionsfähig, während mich schwieriger werdende Situationen und vor allem Unwetter vorantreiben und positiv aufladen. Ein ähnliches Katastrophenwetter erlebte ich zuletzt bei einem 24-h-Radrennen viele Jahre zuvor, bei dem fast alle Teilnehmer das Rennen unterbrachen, während ich mit großer Freude viele Kilometer sammeln konnte. Ein entzündetes Knie zerbrach damals meine Siegträume einige Stunden später. Ein ähnliches Schicksal wartet nun bereits …
„Was denn noch alles?“, schreie ich hinter Jens laufend in den Sturm und meine damit Thor, den Wettergott der Wikinger, den Herren über Donner, Blitz und Sturm. Antwort ist noch mehr Chaos, während wir uns in den Abstieg zum Tal begeben, in dem das Unwetter besonders tobt.
Die Rentiere
Unten angekommen stehen wir im Sumpf. Von den umliegenden Bergen fließen Unmengen Wasser in das sumpfige Gelände und wir stapfen furchtbar langsam durch den Morast, während es durch die Blitze oft taghell wird. Wie gesagt, die Sonne geht zu dieser Zeit Nachts nicht unter und es ist bereits 21:30, als Jens vorschlägt nun angesichts der Umstände an den Berghängen Schutz zu suchen. Welchen Schutz? Es gibt hier keine Bäume, Felsüberstände oder sonstige schutzbringenden Hilfsmittel. Wir beobachten die Blitze und stellen fest, dass sie ausnahmslos horizontal verlaufen und nicht im Boden einschlagen. Also weiter. Es geht weiter, bis wir kurz darauf bis zu den Knien im Sumpf versinken. Ruhe bewahren! Keine unkontrollierten, panischen Bewegungen, die alles nur noch schlimmer machen. Glücklicherweise endet das Einsinken auf Kniehöhe und es gelingt ganz vorsichtig sich mit den Schuhen zu befreien und nach vorne fallen zu lassen, um die Abdruckfläche zu vergrößern.
Einige Kilometer später müssen wir erneut improvisieren, der Trail ist zum Bach geworden und wir nehmen eine Route 100m daneben zwischen Blaubeerbüschen, Steinfeldern, Sumpfgebieten und verdächtig grünen Feldern, die wir lieber nicht betreten. Sturm und Starkregen lassen nicht nach und während wir uns weiter vorankämpfen und uns langsam Sorgen machen, wie lange wir noch unterwegs sein werden, taucht sie auf…
Eine riesige Rentierherde bewegt sich nur 150m vor uns durch das Unwetter. Vollkommen friedlich und ungerührt von Blitz und Donner stehen sie da, beobachten uns in unseren grellen Regenjacken von Gore Wear. Bis auf 100m lassen sie uns herankommen, bis einige ältere Tiere mit riesigen Geweihen das Rudel von uns weg leiten. Wir sind vollkommen hin und weg von dieser Situation, mit der wir überhaupt nicht gerechnet hätten. Es ist vollkommen surreal und wir vergessen kurz die prekäre Situation. Nur wenige hundert Meter später treffen wir auf ein zweites Rudel Rentiere, erneut mehrere hundert Tiere inmitten dieser phantastischen Welt, in der wir erst jetzt merken, dass die Temperaturen extrem stark fallen.
Der letzte Anstieg
Wir kramen nun auch den leicht gefütterten Gore-Windbreaker aus dem Rucksack und ziehen Handschuhe an. Am Nachmittag des Vortags hatten wir uns bei 25 Grad noch überlegt, ob wir die überhaupt brauchen werden. Oh ja! Und das Gefühl von Wärme tut so gut, jetzt noch ein Feuer, eine Hütte und ein Bett. Dummerweise liegen zwischen diesem Wunsch und der Realität noch etwa 10km, ein 100m breiter und stark fließender Fluss sowie ein steiler und langgezogener Bergrücken mit einem Downhill, wie man ihn eher auf Sumatra erwarten würde. Nasser Dschungel.
Das Unwetter zeigt sich ein wenig gnädig und zieht etwas nördlich von uns weiter. Das Schlimmste scheint überstanden, denken wir, während wir zum zehnten Mal unsere beiden Flasks am Fluss auffüllen. Meine Nahrung an diesem Tag besteht zu 90 % aus fast geschmacklosem Energypulver. Extrem magenverträglich, zigfach auf vielen Ultrastrecken getestet, unspektakulär und sicher. Die Belohnung gibt es am Abend. Jens setzt mehr auf Fruit Gums, Riegel und seine Südtiroler Würste. Gute und leckere Nahrung ist ebenfalls ein enormer Motivator, auch für mich. Das Vermeiden von Magenproblemen ist allerdings auch von enormer Bedeutung und so findet jeder für sich die perfekte Mischung, um durchzuhalten und kein zu arges Energiedefizit aufzubauen. Denn am nächsten Tag beginnt das Spiel von vorne und es ist kaum möglich, diese Speicher jeweils auf das Ausgangsniveau neu aufzubauen.
Der Fluss macht uns Sorgen! Er ist verdammt breit, das Wasser fließt sehr schnell und die darin liegenden Steine haben eine extrem rutschige Oberfläche, die keinen Halt bietet. Wir suchen uns eine Stelle, an der wir auf der anderen Seite gut aus dem Wasser kommen. Mit einem mulmigen Gefühl steigen wir in das knietiefe Wasser und beginnen schräg gegen die Fließrichtung den Übergang. Es drückt uns zur Seite, die Steine unter den Schuhen geben keinen festen Halt und einige Male drohen wir, in den Fluss zu fallen. Das wäre fatal und muss unbedingt vermieden werden. Unterkühlt erreichen wir das Ufer und legen etwas Geschwindigkeit zu, um wieder Wärme zu gewinnen. Am Fuße des letzten Bergs der heutigen Route geht es sehr steil in den Hang und hier merke ich erstmals das rechte Knie wieder. Jeder Schritt hinauf wird von einem stechenden Schmerz begleitet, der zunächst aushaltbar, aber sehr unangenehm ist. Daher wechsle ich die Belastung etwas zum linken Bein und ändere die Stocktechnik, um mir Erleichterung zu verschaffen. An dieser Stelle sei für Nachahmer erwähnt, dass wir unsere Stöcke von Komperdell (Modell Erlkönig) so dringend gebraucht haben wie fast nichts anderes. Wer hier ohne Poles läuft, macht sich das Leben unnötig schwer und gefährlich.
Kennst Du auch diese Berge, bei denen Du mehrfach denkst „da vorne ist der Peak erreicht“ – aber hinter dem vermeintlichen Peak kommt noch so eine markante Stelle und noch eine …? Lappland ist voll davon! Wenn Du es nicht genau weißt, nutze lieber keine Berg-Wegpunkte als Motivator – es bewirkt genau das Gegenteil und zermürbt Dich. Vermutlich war das eines der besten Learnings, die wir mitgenommen haben.
Das Knie killt mich nun wirklich. Der Schmerz ist kaum noch aushaltbar und wir müssen mehrfach kurz anhalten, um eine Schmerzwelle abklingen zu lassen. Dass so etwas passieren kann, war uns immer bewusst, und es wäre fahrlässig, in solchen Situationen nicht etwas dabei zu haben, was eine Fortbewegung ermöglicht. Mit Schmerzmitteln zu laufen, ist eine sehr schlechte Idee, und ich möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, dass man mich nicht als Vorbild nehmen darf. In Rennen nehme ich keinerlei Schmerzmittel und würde lieber einen DNF in Kauf nehmen, als Warnsignale des Körpers zu ignorieren. In der Wildnis und nach nunmehr fast 18 Stunden Laufzeit, durchgefroren, nass, hungrig und zeitlich komplett neben dem Plan in sehr unwirtlicher Umgebung, war es aber die beste Lösung, um diesen Tag zu retten. Hätte es sich um ein Ultratrailrennen gehandelt, wäre es vom Veranstalter definitiv abgebrochen worden und die Teilnehmer würden evakuiert. Hier sind wir die Veranstalter und Abbruch bedeutet erst recht Gefahr.
Irgendwann taucht die rettende norwegische Berghütte entfernt vor uns auf. Laut Uhr dürften es nur noch 200m sein, aber es ist eher ein Kilometer. Wir nehmen einen steilen Downhill, der nicht der Routenplanung entspricht. Nicht aufgepasst. Uns fällt der Fehler auf, bevor wir unten sind, und beschließen, noch einmal nach oben zu steigen und lieber den richtigen Abstieg zu nehmen. Das stellt sich auch als Fehler heraus, denn beide Wege laufen später zusammen. Wieder 10 Minuten verschwendet und nun geht es noch eine Viertelstunde durch eine klatschnasse Dschungellandschaft und tiefe Pfützen, bis endlich die ersehnte Hütte vor uns auftaucht.
Die rettende Hütte
Nach mehr als 19 Stunden, 77 Kilometern und 2000 Höhenmetern erreichen wir mit etwa 6 Stunden Verspätung die Hütte. Sie ist offen und im Eingang hängen bereits Jacke und Hose eines einzelnen Wanderers. Natürlich schläft der Bursche schon, es ist Mitternacht, und aus einem der beiden Schlafräume hört man schweres Atmen. Der zweite Raum hat vier Betten, die noch frei sind, mit Bettwäsche. Ein Traum.
Die triefenden Klamotten hängen wir über dem Ofen auf, der genug Feuerholz hat, um halb Lappland aufzuheizen, und genau das machen wir nun. Es gibt wenig Schlimmeres, als am Morgen erneut in nasser Bekleidung starten zu müssen.
Auf dem Gasherd kochen wir Wasser für ein warmes Gericht aus der Tüte mit Expeditionsnahrung. Ein Blick auf die Uhr entsetzt: Nach Plan müssten wir in 4 Stunden schon wieder aufstehen, um die nächste Etappe anzugehen, denn diese ist ähnlich lang, allerdings in vermeintlich leichterem Gelände. Wir beschließen, dass wir etwas länger schlafen und dafür lieber erneut in die Nacht laufen. Das Knie hat sich beruhigt, aber mit einem Schmerzmittel im Körper ist das schwierig zu beurteilen. Wir werden sehen, was es am nächsten Morgen sagt …











