Über Nacht ist das Schienbein recht gut abgeschwollen und fühlt sich auch gut an. Die Treppe ins Erdgeschoss kann ich wieder ganz normal gehen, was auch Jacob direkt auffällt. Gestern noch angeschossenes Rentier, heute Gams. Na mal sehen was heute so alles möglich ist auf den 50K nach Alesjaure.

Teil unseres heutigen Plans auf den ersten 8–10 Kilometern ist, dass wir Fotos für unsere Sponsoren machen, für den Fall der Fälle. Und genau das machen wir 10 Minuten später erstmals, denn direkt hinter dem Hostel geht der Trail hinauf in die Berge in Richtung Abiskojaure. Wir scherzen, laufen erstmals wieder und es geht halbwegs gut. Die Beweglichkeit ist wieder da und es entstehen einige schöne Bilder bis zum ersten Peak, von dem wir einen überwältigenden Ausblick über Tal, Abisko und See haben. Eas für ein Land, ich liebe es einfach. Diese extreme Weite ohne Menschen ist echte Freiheit und wir genießen die Augenblicke.

Die ersten Höhenmeter sind geschafft und nun geht es auf Holzbohlen durch die sumpfige Landschaft auf den Haupttrail des Kungsleden. Nach knapp 2 Stunden verlässt uns Jacob und wird zurück ins Tal gehen, um die 120 km Berg, die vor uns liegen, zu umfahren. Um die 400km wird er dafür brauchen, so ist das hier eben.

An einer Stahlbrücke treffen wir auf den Haupttrail und viele Wanderer. „Der Kungsleden ist der Highway von Lappland“, hatte die Arzthelferin in Kiruna gesagt, und sie hat recht. Wanderer mit riesigen Rucksäcken, ganze Gruppen, alle paar Minuten – mir ist das schon wieder zu viel, aber das ist die Route. Da wo es uns sinnvoll erscheint, nehmen wir die Route der Skidoos, die oft direkter ist. Letztlich ist das aber vermutlich Quatsch und die beiden Trails laufen sowieso immer wieder zusammen.

 

Der Schmerz ist zurück

Auf einem dieser Skidoo-Trails merke ich nach etwa 3 Stunden erstmals wieder, dass nichts in Ordnung ist. Das Schienbein meldet sich mit Schmerzen zurück, aushaltbar, aber kein guter Vorbote und nervig – denn nun muss ich wieder sehr gut darauf achten, wie ich den Fuß aufsetze. Vor allem das Abdrücken in einem spitzen Winkel führt direkt zu Problemen. Ich überlege, ob ich es erst einmal für mich behalten soll, verwerfe den Gedanken aber recht schnell. Es ist offensichtlich, denn ich ziehe das Tempo bereits wieder herunter und achtsam zu laufen ist sinnvoller, als in Stille zu leiden. 48 Kilometer sind geplant, das muss doch machbar sein – wenn nicht laufend, dann eben wandernd, denke ich.

Einige Kilometer später geht der flache Höhenweg in Richtung der Berge. Die STF-Station Abiskojaure haben wir inzwischen deutlich hinter uns gelassen. Nächstes Ziel ist die Station Alesjaure. Bis hierhin war der Trail in der Tat gut laufbar, nur hier und da steinig. Keine Herausforderung, Trail halt.

Wir erreichen den Fuß der Berge und schauen uns den Himmel an. Schwarz. Direkt in Laufrichtung. Donner ist zu hören. Man muss kein Prophet sein, um zu ahnen, was uns bevorsteht. Jacob sprach am Morgen von einem herrlich sonnigen Tag und genau das war er bisher auch.  Aber er sagte auch, dass er uns ab und zu ein wenig anflunkern muss, um die Motivation hochzuhalten. So ein Quatsch, ich kann durchaus mit schlechtem Wetter umgehen, wenn ich die richtigen Klamotten anhabe.

Wir erreichen einen kleinen Zeltplatz an einem reißenden Fluss mit Stahlseilbrücke, als das Unwetter losbricht. Mordor begrüßt uns wieder einmal. Blitze und Stahlbrücken sind eine miese Kombination. Wir beschließen, vor der Brücke zu rasten, bis die Blitze weitergezogen sind, denn aktuell tobt sich das Gewitter direkt über uns aus. Es regnet in Strömen und wir kramen unsere Tarps als zusätzlichen Regenschutz aus und nutzen sie als Umhang. Es dauert. Anscheinend gibt es da oben keine Bewegung, während wir neben einer Toilettenhütte des Zeltplatzes warten. Irgendwie ist das schon kurios, hier eine Komposttoilette aufzustellen. Irgendjemand hat sie zugeschraubt und so können wir sie nur als Windschutz gebrauchen.

Wir unterhalten uns über Jacobs Lügen zum Wetter und weil das alles wieder einmal so abgedreht ist, drehen wir ein spaßiges Video dazu. Die Laune ist gut und mein Bein erholt sich dank der Pause.

Berge, Seen und ein Boot

Nach einer halben Stunde ist das Gewitter ein wenig weitergezogen und wir wagen es, die Brücke zu überqueren. Der starke Regen ist geblieben und während wir auf der anderen Flussseite den Berg hinauflaufen, drehen wir erneut Videos, in unsere Tarps gehüllt. Das alles sieht so bescheuert und verrückt aus und muss festgehalten werden. Am Gipfel dieses Anstiegs schmerzt das Schienbein wieder massiv und ich mache mir langsam ein wenig Sorgen, wie weit der Schmerz noch gehen wird. Wäre das ein normales Training, hätte ich sofort abgebrochen. Schlau ist das nicht, aber ich will sehen, ob so ein Tag möglich ist. Denn ist er es, ist vielleicht auch der nächste Tag möglich und ich schaffe es über die Berge. Meine Hoffnung ist, dass die Verletzung auf dem Weg ausheilt. Vermutlich reichlich naiv. Mir fehlt die Erfahrung mit dieser Art Erfahrung einfach. In den nächsten Stunden werde ich auf die harte Tour dazulernen.

Der Trail wird nun immer ausgesetzter, viele Steine, Schlammlöcher und rutschige Hänge machen es komplizierter, die Schmerzen im Zaum zu halten. Ohne Verletzung wäre das alles gut machbar, nur halt schwerer laufbar.

Zwischen den Bergen und einem der ersten Seen auf dem Gebirgsplateau treffen wir auf eine Mutter mit ihrem vermutlich gerade erwachsenen Sohn. Sie trägt ein riesiges Rentiergeweih und die beiden sind sehr interessiert an unserer Geschichte. Und so plaudern wir bestimmt eine halbe Stunde und erzählen uns, was jeweils vor uns liegt und wie es uns ergangen ist. In den letzten Tagen ist uns das oft passiert und das ist etwas, was wir beide aus den Alpen kaum kennen. Zu viele Menschen, niemanden interessiert die Geschichte des anderen, der Weg in die Zivilisation ist meist kurz. Hier ist das anders, hier trifft man auf ganz andere Menschen, die ihr Auto nicht 5km weiter unten am Hang stehen haben. Hier sind Menschen unterwegs, die sich mit den Elementen auseinandersetzen, oft tagelang unterwegs sind und für die ein Gespräch oft mehr wert ist als die Sonne am Himmel.   Es ist ehrliches Interesse und kein Geplänkel und blöder Smalltalk, ein Stück weit Therapie für beide Seiten.

Viel Zeit vergeht bei diesem Treffen, aber es war jede Minute wert und immerhin sind es nun ja nur noch 14 Kilometer. Das Schlimmste ist geschafft, denke ich. Jetzt nur noch an den Seen entlang und am Ende des letzten Sees liegt die STF-Fjällstation Alesjaure. Die Höhenmeter sind auch größtenteils abgehakt, was soll schon noch passieren?

Vier Rentiere laufen direkt vor uns über den Trail, was uns wieder einmal begeistert. Wir sind kurz vor einem Sami-Gebiet, in dem die Rentiere bis Mitte Juli zusammengetrieben und markiert werden. Vermutlich auch aussortiert, aber der Gedanke ist weniger schön angesichts dieser immer wieder beeindruckenden Erscheinungen.

Hinter einem Weidezaunübergang sind wir im Sami-Gebiet an einem der vielen Seen, die azurblau in der Sonne funkeln, die sich nun doch wieder eingefunden hat. Der Trail besteht zu wesentlichen Teilen aus Holzbohlen und ist eigentlich recht einfach. Das Schienbein ist nun jedoch kochend heiß und der Schmerz kaum noch aushaltbar. Ich beschließe nun doch, eine Schmerztablette zu nehmen, da uns die Zeit davonrennt und wir befürchten, angesichts der vielen Wanderer kein Bett mehr in der Fjällstation zu bekommen. Das wäre schlecht, aus einem ganz einfachen Grund: Wir haben am Vorabend radikal unsere Rucksäcke ausgeräumt und den Schlafsack, die Isomatte und auch die Trekkingnahrung geopfert und Jacob mitgegeben. Was wir noch haben, reicht, um 2,5 Tage zu überleben. Dafür wiegt der Rucksack nun nur noch 5kg und das ist extrem angenehm gegenüber den 8 kg zum Start.

Die Alesjaure-Station ist die größte Fjällstation des STF in Schweden, aber auch gut besucht in einem traumhaften Wandergebiet, welches man von Abisko halt gut erreichen kann.  Noch 7 Kilometer. Die Schmerztablette wirkt, das merke ich, aber sie hat keine Chance gegen diesen Schmerz. In meinem Schienbein stecken zahlreiche kleine Messer, die sich mit jedem Schritt tiefer in Knochen und Fleisch bohren. Jens sieht, wie groß meine Probleme sind, und lässt mich die Pace bestimmen. Inzwischen ist die Fjällstation am Ende des Sees zu sehen, noch etwa 5 Kilometer, und für mich ist das endlos weit, egal wie motiviert ich auch bin. Die Tränen stehen mir vor Schmerz in den Augen, das ist alles vollkommen sinnlos – doch dann taucht ein Bootssteg neben uns am See auf und die Infotafel des Bootsführers, der heute noch genau ein Mal von hier zur Fjällstation fährt. 5 Kilometer für 500 Kronen, etwa 45 Euro. Ein vollkommen irrer Preis, denke ich. Wer macht so etwas? Verwöhntes Pack, das nicht fit genug ist und zu viel Geld hat. Nun ja, es warten schon einige Wanderer am Steg. Für mich ist das die Lösung. Kaputter Typ, der zu viel Geld hat.
Jens läuft die letzten Kilometer und freut sich (not!) über die Bachquerung auf halber Strecke, die wieder alles durchnässt. Ich sehe ihn laufen, das muss so befreiend sein, endlich wieder richtig voranzukommen, Bach hin oder her. Er kommt vor mir an und organisiert schon mal die beiden Betten, während ich 20 Minuten auf den Sami-Bootsführer warte, der uns alle einlädt und dann über den eiskalten See fährt. Vorbei an der Sami-Siedlung, die nun verlassen am Seerand kurz vor der Fjällstation liegt und an der noch vor kurzem reger Betrieb mit den Renen herrschte. Das Benzin für das Boot muss per Heli eingeflogen werden, das erklärt die Preise.

Begegnungen

Der Trail hinauf vom See zur Fjällstation ist pure Folter. Der linke Fuß lässt sich kaum noch aufsetzen, ohne in einem Meer aus Schmerzen zu baden. Oben angekommen treffe ich auf Jens und wir schauen uns in einer der Hütten unsere Schlafplätze in einem 8-Bett-Zimmer an. Zwei Schlafplätze sind bereits belegt, das passt, angesichts der Größe dieser Anlage mit mehr als 100 Betten in verschiedenen Hütten.

Von unserer Begegnung am Nachmittag wussten wir, dass es hier Essen gibt, an der folgenden Station auch, aber nur, wenn man zeitig kommt. Davon können wir nichts feststellen. Auch auf Nachfrage Fehlanzeige. Was hat man uns für einen Bullshit erzählt? Egal. Es gibt einen Shop – oder besser: zwei Ikea-Regale mit Konserven und Trekkingnahrung. Wir entschließen uns für eine Dose Köttbullar. Ohne Kartoffelbrei und Preiselbeeren, nur Fleisch und Soße. Schmeckt bestimmt nicht, ist aber mal was anderes. Dazu wähle ich eine kleine Dose Ananasscheiben. Das alles zu astronomischen Preisen. Der Heli war 4 Tage lang nicht da, das ist eh schon alles Luxus.

In unserer Hütte angekommen wird auf dem Gasbrenner gekocht, Wasser muss sich jeder im Eimer draußen selbst holen. Die Köttbullar-Konserve ist so mediumlecker, während die Dose Ananas so ungefähr das Beste ist, was ich in den letzten 20 Jahren gegessen habe. Jede verdammte Krone wert, und wären die 30m zum Shop nicht so ein krasses Hindernis für mich, müsste ich Nachschub kaufen.

Am Nebentisch sitzen Astrid und Giulia. Zwei junge Mädels aus Südschweden, die eine dreitägige Bergtour nach Abisko machen. Inzwischen sind wir es gewohnt, direkt angesprochen zu werden, was eigentlich nicht in der Natur der Schweden liegt. Aber unsere Laufklamotten machen neugierig und ganz oft war die Frage „Lauft ihr etwa in den Bergen?“ dringend zu beantworten. Sie fragen, was wir hier machen, woher wir kommen und überhaupt. Und es ist wie es immer ist: Wenn man erzählt, das komplette Gröna Band über 1300km zu laufen, herrscht Stille und Ehrfurcht. Und wir halten auch lieber die Klappe, denn das Projekt scheitert gerade und all die schönen Pläne sind nur noch Träume für das nächste Mal.   Die beiden sind sehr beeindruckt von unserer Geschichte und uns macht es auch viel Spaß, sich mit den beiden auszutauschen. Dass die beiden unsere Zimmergenossen sind, merken wir eine halbe Stunde später, Raum für weitere Gespräche.

 

Gedanken

Sonst gibt es hier wenig zu tun. Es ist 19:00 Uhr und ich versuche, ein paar Nachrichten über den Sat-Messenger zu verschicken, was normalerweise immer schnell klappt. Nur heute nicht, trotz wolkenlosem Himmel. Die Nachrichten tröpfeln durchs Netz und währenddessen denke ich darüber nach, was morgen ist, wenn morgen wie heute ist. Wieviel Sinn macht es, einen Tag wie heute zu wiederholen? Was ist, wenn die 50K morgen schon nach 10K schwierig werden? Was ist, wenn diese Verletzung sich weiter ausbreitet oder einen Ermüdungsbruch nach sich zieht, was vorkommt? Man liegt hier nicht stundenlang alleine auf dem Trail, dafür ist dieser Teil des Kungsleden zu stark bewandert. Das schreckt mich nicht, aber letztlich wird mich ein Heli evakuieren müssen. Wegen eines entzündeten Schienbeins! Wie bescheuert ist das denn?

Ich muss an Laura Dahlmeier denken, die am Vortag in den Bergen Pakistans tödlich verunglückt ist. Es geht gar nicht, dass ich mit einer eigentlich lächerlichen Verletzung einen Rettungshelikopter belege, den andere in viel gefährlicheren Situationen besser gebrauchen können. Es war ohnehin schon verwegen bis saudämlich, sich mit der Problematik überhaupt noch in die Berge zu trauen. Bis zum nächsten Morgen vertage ich die endgültige Entscheidung noch, aber es ist doch recht unwahrscheinlich, dass ich eine Wunderheilung erfahre.