
Nach 9 Stunden Schlaf stehen wir um 06:00 Uhr ausgeruht in der Küche. Die beiden Mädels schlafen noch, wie die meisten. Einige sind aber schon weitergezogen, wie wir im Trockenraum bemerken, der unsere nassen Sachen vom Vortag auf Wüstenniveau getrocknet hat.
Nichts hat sich geändert. Das Schienbein pocht nach der Nacht fast so wie am Vorabend und damit ist ein weiteres Vordringen in die Berge auf einem uns unbekannten Trail in meinen Augen keine weise Entscheidung. Es gibt nur zwei Lösungen: weitere Nächte hier auf Heilung warten oder Rückzug nach Abisko auf bekanntem Gelände.
Jens und ich trennen uns. Während er die Route zur nächsten Station weiterläuft, werde ich versuchen, es mindestens bis zur nächsten Fjällstation Abiskojaure zu schaffen. Das wären etwa 30 Kilometer, viel abwärts, aber immerhin kenne ich die Strecke und weiß, was auf mich wartet. Und wenn es gut läuft, könnte ich es bis nach Abisko versuchen und dort entweder in der Fjällstation oder im Hostel übernachten.
Dieser Abschied war hart, für uns beide, denn wir wissen nun, dass das Abenteuer nun einen deutlichen Cut bekommt und wir am Abend über 100km zwischen uns haben werden und das auch nicht ändern können. Für Jens ist dieser Abschied noch härter als für mich, denn er läuft im unbekannten Terrain sehr ungern alleine. Ihn plagt auch Heimweh und seine Gedanken kreisen um die Aufgabe. Sein rechtes Schienbein ist ebenfalls geschwollen und wie es aussieht, bahnt sich hier ebenfalls eine Entzündung an. Trotzdem wagt er den Schritt nach vorne. Nun denn.
Nach 2,5 km erreiche ich den Bachlauf, hole mir einen Satz nasse Füße zum Frühstück und merke kurz darauf, dass ich keine 10km weit kommen werde, wenn ich nicht etwas gegen die Schmerzen tue. An dieser Stelle sei gesagt, dass alles, was an diesem Tag unter Einfluss von stark dosierten Schmerzmitteln geschehen ist, in keinster Weise nachahmenswert ist. Im Rennbetrieb würde ich den DNF immer vorziehen und mich einsammeln lassen. Das geht hier nicht, man muss es aus eigener Kraft schaffen oder die Bergrettung rufen.
In den nächsten Stunden durchquere ich die Berge in einem Nebelfeld von Schmerz, der so gerade eben noch aushaltbar ist. Am Vortag haben wir 11 Stunden für die Strecke benötigt, heute geht es schneller und das muss es auch, denn mein eigentliches Ziel ist die Bushaltestelle in Abisko mit Ziel Kiruna. Ich will nicht in einer der beiden Fjällstationen nächtigen, sondern diese Verletzung nun mit Kälte behandeln und einen Arzt und eine Apotheke am Start haben, wenn es notwendig wird. Der Bus fährt um 17:00 Uhr ab Abisko. Das ist sportlich, wenn das Laufen kaum geht. Die Mücken sind heute wieder einmal besonders aggressiv und haben es besonders auf die Beine abgesehen – noch 4 Wochen später wird man die Einstiche erkennen können.
Stunde um Stunde geht es zurück und dieses Mal gebe ich mich keinen Ablenkungen und Gesprächen hin. Einige Kilometer vor Abiskojaure nehme ich eine Abkürzung durch ein Sumpfgebiet und spare mir eine Viertelstunde. Der Wettkämpfer ist wieder da. Über die Zeit ist die Rückkehr zu einem Wettkampf gegen die Uhr geworden. Pausen sind kaum möglich, dafür hätte ich früher aufbrechen müssen, und das ärgert mich. Ich begegne Dutzenden Wanderern und komme Abisko immer näher, aber die Uhr tickt, bis ich um 16:40 Uhr an der Fjällstation stehe und dort frage, wo denn der Bus hält. Direkt an der Durchgangsstraße, okay – also 200m zurück, immerhin mit einer Cola bewaffnet. Und da stehe ich also nun am Busstop und warte – und warte, nichts kommt.
Ich telefoniere mehrfach mit meiner Frau Charlotte in Deutschland, die im Internet für mich die Busverbindung recherchiert. Nach 10 Minuten hat sie drei Abfahrtszeiten recherchiert. Die 17:00-Uhr-Abfahrt stimmte schon mal nicht, nach einem anderen Plan käme heute gar kein Bus mehr – wie im Übrigen auch kein Zug mehr fährt. Die letzte Angabe ist 17:55 Uhr. Hoffentlich kommt dieser Bus, denn inzwischen haben wir auch ein günstiges Zimmer in einem Hotel in Kiruna gebucht. Drei Nächte zum Auskurieren! Kommt der Bus nicht, lässt sich das Hotel nicht stornieren.
Kiruna – ich komme
Der Bus kommt, fast leer. Wie angenehm. Das Kreditkartenterminal hat keine Verbindung zum Netz und so schenkt mir der nette Fahrer die Fahrt einfach. Glücklicherweise habe ich im Medikit Reisetabletten dabei, denn Busfahren vertrage ich gar nicht. Je nachdem, wie die Geschichte weitergeht, werde ich in Kiruna Nachschub kaufen müssen, denn von dort geht es auch nur mit dem Bus nach Süden und wer weiß, was noch kommt.
In Kiruna angekommen bin ich der letzte Fahrgast und frage den Fahrer, wo denn seine Endstation ist. Er spricht kaum Englisch, versteht aber und will wissen, wo ich denn hin möchte. Ich zeige ihm auf der Karte mein Hotel im Gewerbegebiet. Und was macht der Mann? Er fährt mich bis vor das Hotel, 1,5 km jenseits seiner Route und vermutlich nach Feierabend. Unglaublich nett und unkompliziert, das ist Schweden.
Hotel geschlossen
Die Geschichte dieses Tages könnte nun enden. Tut sie aber nicht. Es ist 20:00 Uhr und die Rezeption ist bereits geschlossen. Seiteneingang mit Pin-Schloss. Kein Problem, hab ja einen Code. Nur funktioniert der nicht. Ebensowenig wie die Hotline und der Hotelgast, den ich frage, hat auch keinen Plan. Charlotte löst mein Problem und versteht in der Hotline das Schwedisch der Hotline. Was für ein Glück, dass Charlotte als Au-pair in Stockholm so exzellent Schwedisch gelernt hat.
Um 20:30 Uhr hat der Fast-Food-Tempel auf der anderen Seite bereits geschlossen. Aber der Supermarkt nicht und dort decke ich mich nun erstmal mit all dem ein, was ich für eine schnelle Genesung und das Hirn brauche. Kühlgels, neue Blasenpflaster, durchblutungsfördernde Salbe und viel Nervennahrung aus der Fressabteilung.
Jens hat es am Nachmittag in die nächste Bergstation geschafft und klagt nun auch über Schmerzen im Schienbein, der Fuß ist geschwollen. Nun hat es ihn also auch erwischt, etwas zeitversetzt, aber doch.
Und damit endet der Tag überaus nachdenklich.









